In seiner Entscheidung vom
10.3.2015, G 180/2014-30 ua hat der
Verfassungsgerichtshof (VfGH) die Wortfolge
„Sachverständigen oder“ in
§ 126 Abs 4 dritter Satz StPO idF BGBl I Nr. 19/2004 für
verfassungswidrig erkannt.
Diese Bestimmung lautete (und lautet auch in ihrer derzeitigen Fassung):
„Im Hauptverfahren kann die Befangenheit eines Sachverständigen oder Dolmetschers nicht bloß mit der Begründung geltend gemacht werden, dass er bereits im Ermittlungsverfahren tätig gewesen ist“.
Dem Verfahren lag ein
Gesetzesprüfungsantrag des Obersten Gerichtshofs
(OGH) zu Grunde, den dieser aus Anlass dreier bei ihm anhängiger Nichtigkeitsbeschwerden an den Verfassungsgerichtshof gestellt hatte. Der OGH vertrat darin die Ansicht, dass der im
Ermittlungsverfahren von der
Staatsanwaltschaft bestellte
Sachverständige, soweit sich die
Anklage auf seine Expertise stütze und ihn das
Gericht im
Hauptverfahren neuerlich bestelle, als
„Zeuge der Anklage“ im Sinn eines
von einer Verfahrenspartei nicht unabhängigen Sachverständigen zu sehen sei. Die
gerichtliche Bestellung ändere an dem bereits entstandenen
Anschein eines Naheverhältnisses zur
Gegenpartei des Beschuldigten - dem
Staatsanwalt - nichts. Der vom
Staatsanwalt im
Ermittlungsverfahren eingeholte
Sachverständigenbeweis schaffe ein
strukturelles Ungleichgewicht zum Nachteil des Beschuldigten. Während für die Staatsanwaltschaft der
Erkundungsbeweis statthaft sei, in dessen Rahmen sie
ohne Bindung an Begründungserfordernisse auch Sachverständige beauftragen könne, müsse der
Beschuldigte in seinem Antrag
begründen, weshalb die begehrte Beweisaufnahme durch den Sachverständigen geeignet sei, das (erhebliche) Beweisthema zu klären. Im
Hauptverfahren könne der Beschuldigte nur dann mit Erfolg die
Beiziehung eines weiteren Sachverständigen beantragen, wenn es ihm gelinge,
formale Mängel aufzuzeigen, die sich durch Befragung des bisherigen Sachverständigen nicht beseitigen ließen. Das prozessuale Recht, allenfalls unterstützt durch einen
Privatgutachter,
Fragen an den Sachverständigen zu stellen, decke bloß einen Teil des
Grundrechts auf ein faires Verfahren gemäß Art 6 EMRK ab.
Die dargestellte Rechtslage sei im Hinblick auf den
Grundsatz der Waffengleichheit bedenklich. Trete der Sachverständige als
„Zeuge der Anklage“ und somit als
Belastungszeuge auf, habe das Gesetz dem
Angeklagten das Recht einzuräumen, die Ladung und Vernehmung eines „
Entlastungszeugen“ unter denselben Bedingungen, somit die
Bestellung eines anderen Sachverständigen zu erwirken, der entweder
nicht in einem vergleichbaren
Naheverhältnis zur
Anklagebehörde stehe oder - gleichsam kompensando - das
Vertrauen der Verteidigung genieße. Dies sei nach der derzeitigen Rechtslage nicht der Fall. Die Berücksichtigung von
Privatgutachten sei dem Strafverfahren nach ständiger oberstgerichtlicher Rechtsprechung fremd. Schließlich lasse das Gesetz vor dem Hintergrund der in § 126 Abs 2c StPO normierten Verpflichtung zur Beachtung der Grundsätze der
Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und
Zweckmäßigkeit auch dem
Gericht keinen Spielraum, dem Hauptverfahren einen anderen als den schon im Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft bestellten Sachverständigen beizuziehen.
Der
VfGH schloss sich diesen, auch von zahlreichen Stimmen in der wissenschaftlichen Lehre geteilten Bedenken des OGH an:
„Das
Prinzip der Waffengleichheit stellt nach der Rechtsprechung des
VfGH und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
(EGMR) einen der Wesenszüge des fairen Verfahrens iSv
Art 6 EMRK dar, weshalb der Gesetzgeber verhalten ist, den gerichtlichen Strafprozess so auszugestalten, dass jeder Partei angemessene Gelegenheit eingeräumt wird, ihren Fall einschließlich aller ihrer Beweise unter solchen Bedingungen zu präsentieren, die
keinen wesentlichen Nachteil gegenüber der Gegenpartei bedeuten. Entsprechende Regelungen müssen sicherstellen, dass ein
Sachverständiger grundsätzlich sowohl vom
Entscheidungsorgan als auch von den
Parteien in vergleichbarer Weise
unabhängig ist wie das Entscheidungsorgan selbst und dass die Möglichkeit besteht, die
Bestellung anderer Sachverständiger zu erwirken, die nicht in einem auch nur
anscheinsmäßigen Abhängigkeitsverhältnis zu einer
Verfahrenspartei stehen oder die - gleichsam kompensando - das
Vertrauen der Gegenpartei genießen.
§ 126 Abs 4 dritter Satz StPO schließt die
Geltendmachung des vorangegangenen Wirkens des Sachverständigen im
Auftrag der Staatsanwaltschaft als
Befangenheitsgrund schlechthin - somit unabhängig von den Umständen des Einzelfalls -
aus. Dies bedeutet, dass es dem Angeklagten von Gesetzes wegen selbst dann verwehrt ist, das Vorliegen von Hinweisen auf eine objektive Befangenheit des Sachverständigen mit Aussicht auf Erfolg geltend zu machen, wenn der Sachverständige vom Staatsanwalt mit der Durchführung von
Ermittlungen - allenfalls auch in Form eines
Erkundungsbeweises - betraut war und sich die
Anklage primär auf dessen Expertise stützt.
§ 126 Abs 4 StPO ist vor diesem Hintergrund
verfassungswidrig. Eine Norm, die es dem Angeklagten im Hauptverfahren, in dem der Staatsanwalt diesem als Anklagevertreter gegenüber tritt,
von vornherein und
ausnahmslos verbietet, den vom Staatsanwalt im Ermittlungsverfahren beauftragten Experten im Fall von objektiven, gegen dessen völlige Neutralität sprechenden Anhaltspunkten im Zusammenhang mit seiner konkreten Tätigkeit im Ermittlungsverfahren als befangen
abzulehnen,
verstößt gegen das in Art 6 EMRK garantierte
Gebot der Waffengleichheit.
Dieses Ergebnis hat allerdings
nicht den
generellen Ausschluss eines Sachverständigen allein aus dem Grund, dass er bereits im
Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft beigezogen wurde, für die Bestellung in der
Hauptverhandlung zur Folge, sondern führt vielmehr dazu, dass das Gericht im Rahmen einer
Einzelfallprüfung eine
allfällige Befangenheit anhand der Regelung des § 47 Abs 1 Z 3 iVm § 126 Abs 4 erster Satz StPO (Vorliegen von Gründen, die geeignet sind, die volle
Unvoreingenommenheit und
Unparteilichkeit des Sachverständigen in
Zweifel zu ziehen) zu beurteilen hat.
Fazit:
Die vorliegende Entscheidung des VfGH bedeutet
nicht, dass nunmehr Sachverständige, die das
Gericht in der
Hauptverhandlung bestellen möchte,
immer schon deshalb
befangen sind, weil sie bereits im
Ermittlungsverfahren im Auftrag der
Staatsanwaltschaft tätig waren. Der
Beschuldigte (Angeklagte) muss aber
Gelegenheit haben, den in seinem Fall vom Gericht ausgewählten Sachverständigen
aus diesem Grund abzulehnen. Diesen Ablehnungsantrag wird er freilich entsprechend zu konkretisieren haben. Das
Gericht muss dann in jedem Einzelfall prüfen, ob hinreichende Gründe bestehen, die volle
Unvoreingenommenheit und
Unparteilichkeit des bereits im Ermittlungsverfahren tätigen Sachverständigen in Zweifel zu ziehen - etwa, weil dieser vom Staatsanwalt mit der Durchführung von
Ermittlungen - allenfalls in Form eines
Erkundungsbeweises - beauftragt war.
Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber mit dem
Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2014 bereits versucht hat, einen grundrechtskonformen Zustand durch Stärkung der Rechte des Beschuldigten im Zusammenhang mit der
Auswahl des Sachverständigen und dem
Sachverständigenbeweis im Strafverfahren zu erreichen.
Siehe dazu die
Schlagzeile „Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2014 - Änderungen im Verfahrens- und Gebührenrecht!“ unter der Rubrik
„Aktuelles“.
Den
Text der VfGH-Entscheidung können Sie
hier laden.